Geschrieben am 07.06.2022

Beim Klinikverbund herrscht Therapiebedarf

Dissonanzen - Das Verhältnis der Landkreise Calw und Böblingen ist nicht konfliktfrei / Gesellschafterstruktur scheint überkommen

16 Jahre nach der Gründung brodelt es im Klinikverbund Südwest. Die Ursachen liegen in der überkommenen Gesellschafterstruktur und im nicht immer konfliktfreien Verhältnis der Landkreise Böblingen und Calw.


Kreis Calw/Böblingen: In den Chefetagen des Klinikverbunds Südwest macht sich Verschleiß breit. Zwei Regionaldirektoren, ein Chefarzt und der Geschäftsführer: Vier Führungspositionen müssen die Gesellschafter innerhalb nur eines Jahres neu besetzen. Der Schreibtisch in der obersten Führungsetage der Kliniken Leonberg und Herrenberg wurde in den vergangenen Monaten gleich zweimal frei, in der Böblinger Kardiologie – einer der größten medizinischen Abteilungen – kehrte der Chefarzt nach nur vier Monaten den Krankenbetten wieder den Rücken, und Verbund-Geschäftsführer Martin Loydl hat bereits im Oktober 2021 seinen Abgang verkündet. Seither wird ein neuer Verantwortlicher für sechs Kliniken und 5000 Mitarbeiter in den Landkreisen Böblingen und Calw gesucht. Fest steht: Im Klinikverbund tut sich viel. Zu viel, meinen die einen, an der falschen Stelle die anderen.


Denn die munteren Wechselspiele an der Spitze eines der größten Krankenhaus-Betreibers im Süden der Republik scheinen nur Symptom zu sein. Symptom dafür, dass der Helfer in der Not selbst zum Patienten geworden ist. Was 2006 beschlossen worden ist – ein schlagkräftiger Zusammenschluss der Kliniken in den Landkreisen Calw und Böblingen –, steht heute vor gewaltigen Herausforderungen. 16 Jahre nach der Gründung brodelt es unter der Decke der Holding.


Wenn man sich umhört, ist von »ein paar riesigen Problemen« die Rede. Von Chefärzten, die um medizinisches Personal kämpfen und sich bisweilen in tiefer Abneigung verbunden sind, von einem monströsen 26-Millionen-Jahresdefizit, von unübersichtlichen und ineffizienten Strukturen, von Einzelinteressen, die den Verbundgedanken torpedieren und von zwei Landräten, die mehr schlecht als recht miteinander können. Da scheint der Kardiologe, der nach vier Monaten seinen Chefarzt-Job wieder hingeworfen hat, noch die kleinste Verwerfung, obwohl sie ein Beobachter »eine Blamage« für den Klinikverbund nennt.


Fasst man zusammen, was die gut unterrichteten Kreise so raunen, dann wird deutlich, dass vieles, was gerade nicht rund läuft, auch mit dem zu tun hat, was die Gründerväter des Klinikverbundes im Jahr 2006 konstruiert haben: ein kompliziertes Unternehmensgeflecht, das den Realitäten nur noch bedingt gerecht wird. Denn unterhalb der Holding, die das Gesamtunternehmen repräsentiert und in der Böblingen mit 75,1 Prozent eine deutliche Mehrheit besitzt, befinden sich zwei weitere Gesellschaften, in die die jeweiligen Häuser der beiden Landkreise gepackt sind. Die Kreiskliniken Böblingen gGmbH und die Kreiskliniken Calw gGmbH werden zu 51 Prozent von der Holding und zu 49 Prozent von den jeweiligen Landkreisen gehalten. Die Investitionen und finanziellen Lasten der Kliniken werden dadurch vom Verbund abgekoppelt und von Calw und Böblingen jeweils getrennt für ihre Häuser verantwortet.


Ein Konstrukt, das seine Schwächen hat. Wenn der Aufsichtsrat tagt, dann muss mindestens eine Halle her, damit die 60 Mitglieder Platz finden, die Entscheidungswege sind mitunter entsprechend zäh und ineffizient. »Da reden viel zu viele mit«, sagt einer, der sich auskennt. Stringente Entscheidungen seien nicht möglich und der eigene Kirchturm vielen Aufsichtsräten näher als der Verbundgedanke. Jeder habe erst einmal seine Kliniken im Kopf.


Die Grundidee, dass jeder Landkreis für seine Immobilien zuständig ist, scheint jedoch überholt in Zeiten, in denen die Medizin längst die Landkreise mit klinikübergreifenden Kooperationen überwunden hat: Lager, Apotheke, Küche und Verwaltung arbeiten schon viele Jahre verbundübergreifend, 15 Zentren in sämtlichen medizinischen Fachbereichen scheren sich nicht mehr um Landkreis- und Klinikgrenzen. Sie agieren verbundweit.


Dass der Klinikverbund auf der politischen Ebene immer noch mehr von den räumlichen Grenzen bestimmt wird als vom gemeinschaftlichem Denken und Handeln, liegt auch an den beiden ganz unterschiedlichen Landkreisen, die sich vor 16 Jahren medizinisch vermählt haben: hier der wirtschaftsstarke und gut situierte Kreis Böblingen , der vier Kliniken in die Ehe eingebracht hat, dort der ländlich geprägte Landkreis Calw, der über ein deutlich schmäleres Budget und nur zwei Kliniken verfügt.


Eine ungleiche medizinische Schicksalsgemeinschaft, die sich auch immer wieder im gegenseitigen Umgang bemerkbar macht. Insider erzählen von gerne platzierten Überheblichkeiten von Böblinger Seite, auf der anderen Seite herrsche ein Grundmisstrauen, das die Calwer Abordnung ihrem Verbundpartner gegenüber an den Tag legt. »Die haben immer das Gefühl, dass sie über den Tisch gezogen werden«, ist zu hören.


Am Graben zwischen den Partnern, da sind sich Insider einig, wird auch an oberster Stelle fleißig geschaufelt. Mit Roland Bernhard in Böblingen und Helmut Riegger in Calw sind zwei Alphatiere an der Spitze der Landratsämter an der Macht, die sich nichts schenken. Ein offenes Geheimnis ist, dass die beiden nicht gerade ein harmonisches Verhältnis verbindet. In Böblingen empfindet man Calwer Bedenken und Empfindlichkeiten gerne als Störfeuer, in Calw beäugt man argwöhnisch die explodierenden Kosten beim Bau der Flugfeldklinik in Böblingen und sieht sich als Juniorpartner eines gernegroßen Verbund-Mitstreiters, der es mit dem Geldausgeben nicht so genau nimmt. Die Augenhöhe der beiden Partner scheint aus dem Lot geraten zu sein – falls sie denn jemals bestanden haben sollte.


Deutlich wird das auch an der Personalie des Geschäftsführers. In den Augen vieler Calwer Aufsichtsräte vertritt Martin Loydl in erster Linie die Böblinger Interessen. »Da hat sich der Eindruck festgesetzt, dass er der Statthalter von Böblingen ist«, erzählt einer hinter vorgehaltener Hand. Wer genau hineinhört in diesen Klinikverbund, dem entgeht nicht, dass auch der Calwer Landrat so seine Probleme mit dem Geschäftsführer hat und einen nicht geringen Anteil daran besitzt, wenn Loydl, der seit Anfang an dabei ist, bald den Klinikverbund verlässt. Während Rieggers Kollege Roland Bernhard und die Böblinger Aufsichtsräte große Stücke auf Loydl halten und ihm ausgeprägte betriebswirtschaftliche Fähigkeiten und eine hohe Sozialkompetenz zuschreiben, hat Helmut Riegger offenbar eine andere Sicht auf den Klinik-Manager. Die Personalprobleme und die hohen Defizite im Verbund lastet er dem Geschäftsführer an. Für den Abgang der Führungskraft gibt es daher Verständnis. »Der ist nicht darauf angewiesen, den Buhmann zu spielen«, sagt ein Gesprächspartner, der nicht genannt werden möchte.


Hier die Calwer, dort die Böblinger und dazwischen viele ungelöste Probleme? Geht es um eine Stellungnahme der beiden Landratsämter zum Klinik-Zwist, ist man dort versucht, den Eindruck der Disharmonie gar nicht erst aufkommen zu lassen. Als Antwort gibt es nicht so wirklich erhellende Sätze, die überwiegend identisch sind und abgestimmt scheinen. Eingeräumt wird, dass die Landkreise »tatsächlich einige schwierige Monate der inhaltlichen Diskussion hinter sich haben«. Dies sei jedoch der personellen und finanziellen Lage in der Pandemie geschuldet. Von einem Knirschen im Verbund sei man weit entfernt, lassen die Landräte beteuern. Sie wollen den Konflikt lieber »offene Diskussionen« nennen.


Diese Diskussionen scheinen sich mehr und mehr in einem Thema zu verdichten: die Reform des komplizierten Gesellschafterkonstrukts. Und an diesem Punkt lohnt es sich, genau auf die Bekenntnisse der beiden Landkreise zu schauen. Einigkeit herrscht, wenn es darum geht, zu betonen, dass die Finanzen nicht das Hauptproblem einer Neuaufstellung seien. Vielmehr müsse die Effektivität verbessert werden und die Arbeit auf Augenhöhe stattfinden. Eine Projektgruppe sei mit dieser Aufgabe bereits betraut. Im Böblinger Landratsamt scheint an diesem Punkt das Bedürfnis größer, Defizite beim Namen zu nennen: »Von zentraler Bedeutung«, analysiert man dort in einem zusätzlichen Absatz, ist »das Zusammenführen der Interessen der beiden Landkreise.« Betrieblich sei man da schon einen Schritt weiter, bekennt die Böblinger Seite im Alleingang.


Dass es so nicht weitergehen kann wie bisher, dieser Meinung ist auch Roland Mundle. Mundle, Fraktionschef der Grünen im Böblinger Kreistag und Mitglied im Klinikverbund-Aufsichtsrat, ist der einzige, der sich mit seinem Namen zu diesem Thema äußern möchte – im Sinne einer konstruktiven Lösung, wie er betont. Denn weg mit dem Klinikverbund und zurück ins klinische Einzelkämpfer-Dasein sei das, was auf keinen Fall passieren dürfe. Im Gegenteil: »Jetzt ist es wichtig, eine gute Fusion zwischen den Kreiskliniken zu schaffen«, sagt er. Die Konflikte beruhen seiner Meinung nach im Kompetenz-Wirrwar. Zwei GmbHs unter einer Holding, das könne nicht gut gehen. »Die bisherige Unruhe ist diesem Konstrukt geschuldet«, ist er sicher. Für ihn gibt es daher nur eine Lösung: eine gemeinsame Organisation mit einem Aufsichtsrat, der aus beiden Landkreisen besetzt wird.


Damit, so sind sich viele sicher, würde die Politik nur dem folgen, was in den Kliniken schon längst gelebt wird. Ob die Verantwortlichen einen Weg finden, auf dem sie gemeinsam marschieren, muss sich zeigen. Wenn nicht, könnte die Scheidung und der Rückfall in die Zeit der Einzelkliniken drohen. Der Abgrund wäre erreicht. Es herrscht dringender Therapiebedarf.



Der Klinikverbund Südwest wurde 2006 von den Landkreisen Böblingen und Calw sowie der Stadt Sindelfingen gegründet, um die Kliniken in Böblingen, Sindelfingen, Herrenberg, Leonberg, Nagold und Calw zusammenzuführen. Die Kliniken verfügen über rund 2000 Betten und versorgen ein Einzugsgebiet von 550 000 Menschen. 5000 Angestellte betreuen pro Jahr knapp 80 000 Patienten stationär und 300 000 ambulant.


Von Michael Stürm, Gerlinde Wicke-Naber und Jan-Philipp Schlecht
Schwarzwälder Bote, Teil Nordschwarzwald vom 07.06.2022